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Christine Lagarde
The President of the European Central Bank
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Die Kraft der Ideen nutzen

Rede von Christine Lagarde, Präsidentin der EZB, bei der Yale University in New Haven, USA

New Haven, USA, 22. April 2024

Ich freue mich, heute hier sein zu dürfen.

Der Yale Jackson School of Global Affairs gelingt es, einige der klügsten Köpfe jeder Generation anzuziehen. Hier werden Talente gefördert und Studierende motiviert, außergewöhnliche Karrieren im diplomatischen Dienst oder Staatsdienst einzuschlagen.

Ein Studium in Yale bietet aber auch sonst noch einiges an Inspiration. Unweit von hier – sicher verwahrt in der Sterling Memorial Library im Herzen des Campus – liegen die Schriften von Benjamin Franklin, dem allerersten US-amerikanischen Diplomaten.

Franklin war ein Tausendsassa – Botschafter in Frankreich, Wissenschaftler, Erfinder, Schriftsteller und Verleger, um nur einige seiner Tätigkeiten zu nennen. Vor allem aber war er ideenreich. Als junger Mann, etwa im Alter einiger der hier Anwesenden, begriff Franklin, wie viel Kraft in Ideen steckt.

Er war der Meinung, dass sich unsere Ideen ausgehend von unseren Sinnen den Weg in unser Gehirn bahnen und durch Beobachtung und Erfahrungen wachsen. In unseren Köpfen werden sie dann zum Gegenstand seelisch-geistigen Handelns.[1]

Indem sie uns zum Handeln veranlassen, können uns Ideen dabei helfen, zu wachsen, etwa auf persönlicher Ebene: beispielsweise, wenn junge Menschen während ihres Studiums lernen, in ihrem zukünftigen Beruf stets die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das gilt aber auch auf gesellschaftlicher Ebene: Ideen bringen unsere Volkswirtschaften voran.

In den vergangenen Jahrzehnten gab es kaum Hindernisse auf der Welt, die den Ideenfluss störten. Die fortgeschrittenen Volkswirtschaften gaben ihre Technologien an die Schwellenländer weiter, und wir bekamen von den Schwellenländern die günstigeren Vorleistungskosten – so funktionierte das, was wir Globalisierung nennen.

Doch in den letzten Jahren hat sich unsere bisherige globale Wirtschaftsordnung verändert.

Bei einigen fortgeschrittenen Technologien übernehmen nun ehemalige Schwellenländer die Führung. Die Globalisierung ist derzeit auf dem Rückmarsch. Dies bedroht den Zugang zu Ressourcen, von denen fortgeschrittene Technologien abhängen.

Es stellt sich daher die Frage: Wie können wir in dieser neuen Welt alle ein Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen?

Die wichtigste Zutat für Wohlstand ist und bleibt die Entwicklung und Verbreitung von Ideen – und um dieses Thema soll sich meine heutige Rede drehen.

Aus der Geschichte wissen wir allerdings, dass Ideen nur dann wachstumsfördernd sind, wenn wir vorher die richtigen Bedingungen schaffen, damit sie ihr volles Potenzial entfalten können – und wenn wir entschlossen sind, die ihnen im Weg stehenden Hindernisse zu beseitigen.

Dies ist die Herausforderung, vor der wir alle heute stehen, wenn in dieser neuen Welt alle in Wohlstand leben sollen. In meiner heutigen Rede werde ich mich darauf konzentrieren, was diese Herausforderung für unsere Volkswirtschaften und insbesondere für Europa bedeutet.

Die Kraft der Ideen in der Geschichte

In der Geschichte sind technologische Durchbrüche der Ursprung menschlichen Fortschritts, und an deren Anfang stehen Ideen. Aber aus einer Idee wird nicht zwangsläufig wirtschaftlicher Wohlstand.

Denken wir einmal an Gutenbergs Druckpresse – ein geniales Gerät, bei dem Metallpatrizen für das Formen der Drucklettern mit einer ölbasierten Tinte und Techniken aus der Weinerzeugung kombiniert wurden.[2]

Da mit ihrer Hilfe Bücher günstiger und schneller hergestellt werden konnten, war die Druckpresse der Ausgangspunkt einer Kommunikationstechnologie, die unsere Welt revolutionieren sollte. Übrigens: In der wunderschönen Beinecke Rare Book and Manuscript Library hier in Yale kann man die Originalausgabe einer Gutenberg-Bibel bewundern.

Allerdings fiel Gutenbergs bahnbrechende Erfindung in eine Zeit, in der in seiner Heimat Deutschland nur sehr wenige Menschen – etwa 9 % der Bevölkerung – lesen konnten.[3] Für den Erfolg der Druckpresse war letztlich entscheidend, dass die Menschen in den darauffolgenden Jahrhunderten das Lesen lernten, die Auswahl an Büchern zunahm und diese billiger wurden, was auch das Lernen an sich erschwinglicher machte. Jene Länder, deren Bevölkerung schneller Lesen lernte, verzeichneten ein kräftigeres Wachstum ihrer Wirtschaft und des Pro-Kopf-BIP. Dieser Zusammenhang hat auch heute noch Bestand.[4]

Betrachten wir die letzten Jahrhunderte, so zeigt sich, dass drei Dinge gegeben sein müssen, damit Ideen ihr volles Potenzial entfalten können: Umsetzung, Verbreitung und Ehrgeiz.

Umsetzung bedeutet: Man muss Ideen in gesellschaftlich nutzbare Projekte umsetzen können. Die Erfahrung zeigt uns, dass dies davon abhängt, dass in Schlüsselbereichen wie der Finanzierung und der Bereitstellung von Vorleistungen die richtigen wirtschaftlichen Ökosysteme vorhanden sind.

So war die Finanzierung neuer Ideen bis zum Ende des 17. Jahrhunderts aufgrund von unterentwickelten Finanzmärkten stark eingeschränkt. Die Situation änderte sich u. a. dadurch, dass zu dieser Zeit die ersten modernen Aktiengesellschaften mit beschränkter Haftung entstanden.[5]

Mit einem Mal konnten große Mengen an Kapital zur Finanzierung kühner Projekte eingesammelt werden – etwa für die Ausweitung der globalen Schifffahrtsrouten von Ost nach West, was die Versorgung mit Vorleistungen einfacher machte. Länder, die Aktiengesellschaften offen gegenüber standen, wuchsen in der Regel schneller.[6]

Wenn Ideen durch die richtigen wirtschaftlichen Ökosysteminfrastrukturen gefördert werden können, dann trifft auch das Gegenteil zu. Der Ausbau des US-amerikanischen Schienennetzes war nicht nur eine Pionierleistung, er erwies sich auch insofern als revolutionär, als er die Entwicklung der US-Kapitalmärkte beschleunigte.[7]

Damit Ideen ihre Wirkung auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene richtig entfalten können, müssen sie auch verbreitet werden. Die Technologie muss in einer Volkswirtschaft Verbreitung finden und von den Menschen angenommen werden.

Die Geschichte zeigt, dass für die Verbreitung von Ideen die volkswirtschaftliche Größe wichtig ist: das Vorhandensein eines großen, integrierten Markts. Ein großer Markt ist auch Anreiz für Firmen, neue Technologien zu nutzen, damit sie durch Ausweitung ihrer Produktion die Lohnstückkosten senken können.

Bestes Beispiel, dass die volkswirtschaftliche Größe wichtig ist, sind die Vereinigten Staaten. Durch die US-Verfassung wurde aus 13 einst separaten Kolonien ein Land. Doch die Entwicklung der Wirtschaft des Landes sollte letzten Endes davon abhängen, wie diese Verfassung – und insbesondere ihre Handelsklausel – ausgelegt wird.

Ein entscheidender Moment war, als der Oberste Gerichtshof in seinem Urteil Gibbons gegen Ogden das Recht des Kongresses bestätigte, den Handel zwischen den Bundesstaaten zu regeln und den Kongress somit de facto befugte, Monopole aufzulösen, die von Bundesstaaten genehmigt worden waren und durch die eine Fragmentierung des US-Marktes drohte.

Diese Entscheidung trug zur Schaffung einer wirklich landesweiten Wirtschaft bei und bereitete den Boden dafür, dass sich die Ideen US-amerikanischer Unternehmer verbreiten und florieren konnten. Mehreren Schätzungen zufolge hat sich das Pro-Kopf-BIP in den Vereinigten Staaten zwischen 1800-1820 und 1820-1840 mindestens verdoppelt.[8]

Oftmals war die Veränderung jedoch kein Selbstläufer, sondern dem Ehrgeiz von Unternehmern, Ökonomen, Juristen oder Entscheidungsträgern zuzuschreiben. Ihrem Mut, Hürden zu überwinden um Fortschritte zu erzielen, sowie ihrer Fähigkeit, andere davon zu überzeugen, ihrer Vision zu folgen.

Doch das Wesen dieses Ehrgeizes hat sich im Zeitverlauf geändert.

Im 19. Jahrhundert brauchten die Vereinigten Staaten mit ihren vielen, teils weit voneinander entfernt liegenden Bundesstaaten visionäre Unternehmer wie Cornelius Vanderbilt, dessen Schienennetz dazu beitrug, die Wirtschaft des Landes zu vereinen. Mit der Zeit schufen die Schienen-Tycoons Monopole, die dem Gemeinwohl schadeten. Hier war der Ehrgeiz von Entscheidungsträgern wie Theodore Roosevelt gefragt, um die Monopole aufzubrechen und den Wettbewerb zu fördern.

Wachstum entsteht im Grunde dann, wenn diese drei Faktoren zusammen kommen: Wenn aus Ideen Innovationen werden, Innovationen die Produktivität steigern und unsere Gesellschaften den erforderlichen Ehrgeiz besitzen, etwaige Hindernisse aus dem Weg zu räumen.

Die Macht der Ideen heute

Dies bringt mich zurück in die Gegenwart.

Mit dem Wachstum unserer Volkswirtschaften ändert sich die relative Bedeutung der verschiedenen Wachstumsfaktoren.[9] Für Schwellenländer, die in Sachen Technologie eher auf den hinteren Plätzen sind, kann es hilfreich sein, zunächst auf ihre Arbeitskräfte und dann auf Kapital zu setzen, um den Rückstand aufzuholen.

Mit zunehmendem Reifegrad und Fortschritt der Volkswirtschaft sind es vor allem die Produktivitätszuwächse, die uns voranbringen. Und bei Produktivität geht es vor allem um Ideen.

In den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften ist die Produktivität jedoch schon seit einiger Zeit rückläufig. Diese Verlangsamung hatte in den 2010er-Jahre eine Debatte zwischen Technologie-Pessimisten und Technologie-Optimisten losgetreten. Erstere waren der Ansicht, dass die Zeiten der bahnbrechenden Ideen hinter uns lägen, während die Optimisten uns am Rande einer neuen technologischen Revolution wähnten.

Die Entwicklung der letzten Jahre legt nahe, dass mehr für die optimistische Sicht spricht. Genau wie in Gutenbergs Zeiten sind derzeit neue und revolutionäre Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und Robotik kurz davor, unsere Gesellschaft zu verändern. Eine Studie gelangt zu dem Ergebnis, dass allein die generative KI das Potenzial besitzt, der Weltwirtschaft ein Plus von jährlich knapp 4,5 Billionen USD zu bescheren, was etwa 4 % des globalen BIP entspricht.[10]

Die gute Nachricht für das Wachstum der globalen Produktivität ist, dass sich diese neuen Ideen offensichtlich in den wichtigsten Volkswirtschaften verbreiten. Dies ist das direkte Ergebnis der Verbindungen, die in der Zeit der Globalisierung geknüpft wurden. Und im Gegensatz zu dem, was einige wohl glauben, ist Europa gut aufgestellt, um von diesen Ideen zu profitieren.

Rund ein Fünftel der weltweit am häufigsten zitierten Veröffentlichungen, Patente und Forschungsarbeiten kommen aus der Europäischen Union, obwohl in ihr weniger als 7 % der Weltbevölkerung[11] lebt. Diese innovativen Aktivitäten betreffen Schlüsselbereiche wie KI und maschinelles Lernen.

Einer Studie zufolge zieht Europa mit über 120 000 aktiven KI-Rollen mehr KI-Talente an als die Vereinigten Staaten. Und im Vergleich der beiden Volkswirtschaften entfiel 2023 ein Drittel des insgesamt in KI und maschinelles Lernen investierten Frühphasenkapitals auf Europa.[12]

Auch in anderen Hochtechnologiesektoren kann die Europäische Union mit zahlreichen innovativen Unternehmen aufwarten. Europas Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe sind oft international tätig, etwa in der Herstellung von Fotolithografie-Maschinen für ausgefeilte Computer-Chips oder Industrieroboter. Tatsächlich ist der Marktanteil Europas auf dem Markt für diese Roboter doppelt so groß wie der Chinas und über dreißig Mal so groß wie in den Vereinigten Staaten.[13]

Dabei sind viele der erfolgreichsten Unternehmen Europas nicht einmal an der Börse. Von den 2 700 sogenannten Hidden Champions der Welt – also kleinen und mittleren Unternehmen, die in ihren Nischenmärkten Weltmarktführer sind – kommt mehr als die Hälfte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.[14]

Nun da die Globalisierung auf dem Rückmarsch ist und der technologische Wandel sich beschleunigt, haben alle Volkswirtschaften Probleme dabei, diese Ideen in nachhaltiges Produktivitätswachstum umzuwandeln.

Und die Probleme treten in den gleichen drei Bereichen auf, die seit jeher maßgeblich dafür sind, dass das Potenzial von Ideen freigesetzt wird, nämlich Umsetzung, Verbreitung und Ehrgeiz.

Die Frage ist also: Wie können wir diese Hindernisse überwinden?

Hindernisse überwinden

Umsetzung

Beginnen wir mit dem ersten Hindernis: Umsetzung.

Damit aus neuen Ideen marktfähige Projekte werden, brauchen wir wirtschaftliche Ökosysteme, die für die spezifischen Anforderungen der heutigen Technologien geeignet sind.

Wir brauchen Finanzsysteme, die es uns ermöglichen, in großem Stil in innovative Firmen zu investieren.

Sektoren wie z. B. KI benötigen anfangs viel Geld für den Aufbau von Rechenleistung und Serverkapazitäten. Laut branchenführenden Unternehmen dürften sich die Kosten für das Training von KI-Modellen binnen eines Jahres verzehnfachen und sich bald schon auf 5 bis 10 Milliarden USD belaufen.[15]

Und wir brauchen einen sicheren Zugang zu einer Vielzahl von natürlichen Ressourcen.

Die Internationale Energieagentur (IEA) schätzt, dass das Training eines einzigen KI-Modells mehr Strom erfordert als 100 private Haushalte in den Vereinigten Staaten in einem ganzen Jahr verbrauchen.[16] Infolge des Umstiegs auf elektrische Transportsysteme und der höheren Investitionen in Technologien für erneuerbare Energien könnte die Nachfrage nach seltenen Erden weltweit bis zum Jahr 2040 um das 3- bis 7-Fache steigen.[17]

Daher müssen wir in unseren Volkswirtschaften proaktiv dafür sorgen, dass wir über diese Ökosysteme verfügen. In Europa stehen wir hier aber zwei besonderen Herausforderungen.

Erstens besitzen wir einen großen Finanzsektor, der sich auf hohe Ersparnisse der privaten Haushalte in Europa stützt. Die Vermittlung von Finanzmitteln erfolgt jedoch hauptsächlich in Form von Bankkrediten und nicht über die Kapitalmärkte, über die Anleihen und Aktien begeben werden.

Für etablierte Unternehmen mit relativ überschaubarem Risiko und reichlich Sicherheiten, wie das unsere alteingesessenen führenden Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe sind, stellt die Aufnahme von Bankkrediten kein Problem dar. Für junge Unternehmen mit hohem Risiko, die in der Regel radikale Innovationen vorantreiben, sind Bankkredite allerdings weniger geeignet.

Innovative Unternehmen benötigen Zugang zu reichlich Risikokapital, was einen großen Sektor an Risikokapitalgebern voraussetzt, die sie bis zum Börsengang begleiten. Allerdings ist es in Europa etwa zehn Mal schwieriger, Risikokapital aufzutreiben als in den Vereinigten Staaten[18]. Dies bedeutet, dass sogar Firmen, denen es in der Anfangsphase gelingt, Geldgeber zu finden, in der Wachstumsphase weniger Unterstützung erfahren. Im Schnitt erhält ein durch Risikokapital finanziertes Unternehmen in der EU im Laufe seines Bestehens rund fünf Mal weniger Finanzmittel als ein vergleichbares Unternehmen in den Vereinigten Staaten.[19]

Aufgrund dieser Divergenz sind europäische Unternehmer oft gezwungen, in die USA zu gehen, um die benötigten Finanzmittel zu bekommen – und manchmal wandern ihre Ideen mit ihnen dorthin ab. Dies ist ein wichtiger Grund, warum Europa im letzten Jahr gerade einmal 1,7 Milliarden USD in generative KI investiert hat. Dem stehen 23 Milliarden USD an Risikokapital und außerbörslichem Beteiligungskapital in den USA gegenüber.[20]

Zweitens verfügen wir in Europa über keine wesentlichen natürlichen Ressourcen und sind somit in hohem Maße auf Importe angewiesen.[21] Aufgrund dieser Abhängigkeit sind wir in einer weniger stark globalisierten Welt und einer sich ändernden geopolitischen Landschaft anfälliger.

Russlands brutale Invasion in die Ukraine führte um ein Haar zu einer Komplettunterbrechung der Gaslieferungen nach Europa. Dies verdeutlicht, was auf dem Spiel steht. Auch wenn es uns gelungen ist, Russland durch andere Bezugsquellen zu ersetzen, haben unsere Firmen hierdurch einen deutlichen Kostennachteil.

Vor der Pandemie waren die Stromkosten der europäischen Firmen 1,7 Mal höher als die ihrer US-Konkurrenz und 1,2 Mal höher als die der chinesischen Mitkonkurrenten. Diese Lücke ist nun auf das 2,5- bzw. 2,3-Fache gewachsen.

Doch in beiden Fällen ist es Europa gelungen, Lösungen für diese Beschränkungen zu finden. Wie der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing gesagt haben soll: Wir haben vielleicht kein Öl, dafür aber Ideen.

Wo immer wir können, arbeiten wir daran, die nötigen Ökosysteme intern aufzubauen. Erst in der vergangenen Woche einigten sich die europäischen Staats- und Regierungschefs darauf, die Entwicklung der europäischen Kapitalmarktunion voranzutreiben, wobei der Schwerpunkt auf der Verbesserung der Finanzierungsmöglichkeiten für europäische Scale-ups liegen soll.[22]

Wir ziehen Investitionen in erneuerbare Energien vor, was uns letztlich zu mehr Unabhängigkeit im Energiebereich verhelfen wird, auch wenn dieser Prozess dauern wird und wir realistisch sein müssen.

Bis es so weit ist, werden wir wahrscheinlich noch mehr auf Länder angewiesen sein, die über die notwendigen Ressourcen verfügen. Beispielsweise stammen 80 % des weltweiten Angebots an Seltenerdmetallen derzeit aus nur drei Ländern.[23]

Wir arbeiten aber auch mit unseren Freunden und Verbündeten zusammen, die mit ähnlichen Problemen wie wir zu kämpfen haben, etwa die Vereinigten Staaten, um unser Angebot stärker zu diversifizieren. Beispielsweise beabsichtigt die EU die Gründung eines Klubs für kritische Rohstoffe. In diesem sollen sich Partner mit ähnlichen Sorgen hinsichtlich der geopolitischen und wirtschaftlichen Sicherheit zusammentun und ihre Investitionen bündeln.[24]

Verbreitung

Sobald aber Ideen auf den Markt gebracht werden, müssen sie verbreitet werden. Langfristiges Wachstum wird jedoch nicht nur von den Innovationen der „Superstar“-Unternehmen angetrieben, sondern auch dadurch, dass Innovationen eine weite Verbreitung finden und auch bei weniger produktiven Unternehmen zum Einsatz kommen.

In der Vergangenheit verbreitete Technologie sich am besten über den freien Handel. Dies gilt insbesondere für unsere beiden Volkswirtschaften. Analysen zufolge dauert es beispielsweise drei bis vier Jahre bis Innovationen in der US-Industrie ihren Weg in die europäische Industrie finden.[25]

Studien zufolge scheint sich die Verbreitung in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften in den letzten Jahrzehnten jedoch verlangsamt zu haben[26] – ein Trend, in dem sich zum Teil die Natur der digitalen Wirtschaft selbst widerspiegeln dürfte, die tendenziell „Winner-takes-all“-Märkte hervorbringt.[27]

Im konkreten Fall Europas rührt die langsame Verbreitung auch daher, dass wir uns – anders als die Vereinigten Staaten – unsere Größe, die wir als kontinentale Volkswirtschaft von Natur aus besitzen, noch nicht in vollem Umfang zunutze machen.

Wir haben in Europa ein Geschäftsmodell entwickelt, das – zumindest für eine große Volkswirtschaft – ausgesprochen stark auf den Verkauf von Gütern in andere große Volkswirtschaften angewiesen ist. Auch auf den Verkauf von Investitionsgütern, die es diesen anderen Ländern ermöglichen, ihre eigene Größe auszuschöpfen. Mehr als ein Drittel des BIP, das auf das verarbeitende Gewerbe entfällt, geht in Länder außerhalb der EU. Zum Vergleich: In China ist es ein Viertel und in den Vereinigten Staaten ein Fünftel.[28]

Wir haben unsere eigene Größe aber nicht in vollem Umfang dafür genutzt, unsere Unternehmen zum Einsatz von mehr Technologie zu animieren. Über 445 Millionen Verbraucherinnen und Verbrauchern leben in der EU, und 23 Millionen Unternehmen haben ihren Sitz bei uns.[29] Dennoch ist unser Binnenmarkt nach wie vor fragmentiert, insbesondere bei den Dienstleistungen.[30] Der Handel mit Dienstleistungen innerhalb der EU macht nur etwa 15 %, der Warenhandel indessen mehr als 50 % des BIP aus.[31]

Dieses brach liegende Potenzial kommt uns teuer zu stehen, denn dadurch entgehen uns Wachstumszuwächse und eine höhere Produktivität. Einer Schätzung zufolge gehen rund 10 % des potenziellen BIP der EU aufgrund von noch vorhandenen Reibungen im EU-Binnenhandel verloren. [32]

Und das beeinflusst auch unsere Wettbewerbsfähigkeit. Derzeit ist zu beobachten, dass andere große Volkswirtschaften Technologie und ihre Größe in Kombination miteinander nutzen, um in Schlüsselsektoren schneller vorzupreschen. China dürfte aktuell in 37 von 44 kritischen Technologien führend sein, darunter Elektrobatterien, Hyperschalltechnologien und fortschrittliche Hochfrequenzkommunikation wie 5G und 6G.[33]

Europa arbeitet aber auch an dieser Front, um sich dieser hemmenden Faktoren zu entledigen. Letzte Woche haben die Staats- und Regierungschefs Europas einen wichtigen neuen Bericht über den Binnenmarkt begrüßt. Dieser enthält die Forderung, die verbleibenden Hindernisse bei der grenzüberschreitenden Erbringung von Dienstleistungen zu beseitigen, sowie die Forderung nach einem Politikwechsel, der dem neuen geopolitischen Umfeld und den geänderten Wettbewerbsbedingungen Rechnung trägt.[34]

Und auch hier haben Europa und die Vereinigten Staaten ein gemeinsames Interesse daran, zusammenzuarbeiten. Insbesondere wenn es darum geht, gleiche Wettbewerbsbedingungen für Länder zu gewährleisten, die sich an die Regeln halten, und gleichzeitig entschlossen gegen Fälle vorzugehen, in denen gegen Vorschriften verstoßen wird, um sich einen unfairen Vorteil zu verschaffen.[35]

Wir dürfen mit anderen Worten nicht in einen Subventionswettlauf zwischen unseren Volkswirtschaften verfallen, von dem am Ende niemand etwas hat. Wir sollten stattdessen unser kollektives Gewicht im internationalen Handel nutzen, um andere von wettbewerbswidrigen Praktiken abzuschrecken. Gleichzeitig sollten wir den freien Fluss von Ideen untereinander fördern. Denn davon hätten alle etwas.

Ehrgeiz

Werden wir all das erreichen können? Letztendlich ist es eine Frage des Ehrgeizes – und das ist das letzte Hindernis, das wir überwinden müssen.

In den letzten Jahren hatte Führung häufig reaktiven Charakter, was bis zu einem gewissen Grad verständlich ist in Zeiten der „Permakrise“, in der ein Schock auf den anderen folgt: erst die Pandemie dann der Kriegsausbruch.

Reaktives Führen reicht aber nicht mehr aus.

Die Krisen werden immer globaler und erfordern ein beispielloses Maß an Koordination über verschiedene Gesellschaftsbereiche hinweg. Gleichzeitig bewegt sich die Welt in eine Richtung, die eine solche Zusammenarbeit erschwert.

Deshalb brauchen wir proaktive Führung – bei der wir den Ablauf der Ereignisse bestimmen, anstatt einfach nur auf sie zu reagieren. Und dafür müssen wir weitaus mehr Ehrgeiz an den Tag legen als bisher.

In der Geschichte Europas gibt es zahlreiche Beispiele dafür, wie viel mit einer solchen Führungsweise erreicht werden kann. In den 1950er-Jahren, die von Versorgungsengpässen und Rationierung geprägt waren, begann Europa, gemeinsame Lieferketten aufzubauen und die Erzeugung von Vorleistungen wie Kohle und Stahl zusammenzulegen.

Mitte der 1980er-Jahre, als das Potenzial des damaligen gemeinsamen Marktes ausgeschöpft war, machte Europa mit der Schaffung des Binnenmarkts den nächsten Schritt und belebte so das Wirtschaftswachstum.

Und als in den 1990er-Jahren stark schwankende Wechselkurse die Stabilität unserer Landeswährungen bedrohten, wagten wir mit unserer Währungsunion den nächsten Vorstoß und schufen damit einen Anker für unseren Binnenmarkt.

So erreichten wir, was viele einst für unmöglich gehalten hatten, und führten Schritt für Schritt einen Kontinent zusammen, den zwei Weltkriege auseinandergerissen hatten.

Wenn ich mir heute die fortgeschrittenen Volkswirtschaften betrachte, bin ich zuversichtlich, dass unsere Verantwortlichen wissen was zu tun ist. Sowohl der CHIPS Act als auch der Inflation Reduction Act in den Vereinigten Staaten beschleunigen die Einführung neuer Technologien. Ich habe zahlreiche Initiativen in Europa aufgezählt, die gerade im Gange sind, und es gibt noch viele andere, die ich nicht erwähnt habe.

Vor allem aber mit Blick auf Europa hoffe ich, dass anders als nach der großen Finanzkrise sowohl die Verantwortlichen als auch die Bürgerinnen und Bürger sich einig sind, was zu tun ist.

Wir begreifen, dass wir es uns nicht mehr leisten können, uns als einen locker verbundenen Club unabhängiger Volkswirtschaften zu betrachten. In einer Welt, die gerade in geopolitische Blöcke zerfällt, die sich um die größten Volkswirtschaften herum scharen, ist diese Sichtweise nicht mehr angebracht. Und wir begreifen, dass es an der Zeit ist, uns als eine einzige, große Volkswirtschaft mit überwiegend gemeinsamen Interessen zu sehen.

Diese geänderte Sichtweise erfordert auch, dass wir in weiteren Bereichen unsere Kräfte bündeln.

Eine alternde Bevölkerung, die Klimawende und das sich verändernde Sicherheitsumfeld führen dazu, dass immer höhere Ausgaben zu bewältigen sind, die wir nur gemeinsam stemmen können. Tun wir das nicht, werden wir vor einer schwierigen Wahl stehen und uns entscheiden müssen zwischen der Aufrechterhaltung unseres sozialen Modells, dem Erreichen unserer Klimaziele und unserer Führungsrolle in der Weltwirtschaft.

Wenn wir als Gemeinschaft handeln, um unser Produktivitätswachstum zu steigern, und unsere Ressourcen in Bereichen bündeln, in denen sich unsere Prioritäten immer mehr einander annähern – wie etwa bei der Verteidigung und beim grünen Wandel – können wir die Ergebnisse erzielen, die wir uns wünschen, und gleichzeitig unsere Ausgaben effizient bewältigen, um nicht an anderer Stelle Opfer bringen zu müssen.

Womöglich werden wir dafür ein paar alte Tabus über Bord werfen müssen, aber wie wir in Frankreich sagen „nécessité fait loi“ – Not kennt kein Gebot.

Die Menschen in Europa verstehen das, selbst in einem Umfeld, in dem der Populismus auf dem Vormarsch ist.

Immer wieder sehen wir in den Umfragen, dass die Europäerinnen und Europäer überzeugt sind, dass gemeinsames Handeln der beste Weg zu Wohlstand und Sicherheit ist.

Mehr als zwei Drittel der EU-Bürger glauben, dass die EU in einer unruhigen Welt ein Hort der Stabilität ist[36], mehr als drei Viertel sprechen sich für eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik aus[37] und jeder Achte ist der Meinung, dass die EU massiv in Bereiche wie erneuerbare Energien investieren muss[38]. Die Unterstützung für die einheitliche Währung liegt im Euroraum nach wie vor in der Nähe der bisherigen Rekordwerte.[39]

Daher bin ich heute zuversichtlich, dass der Ehrgeiz der Frauen und Männer, die die Entscheidungen treffen, mit dem Willen unserer Bevölkerung in Einklang steht, und dass wir die Hindernisse überwinden werden, die uns davon abhalten, unser volles Potenzial zu entfalten.

Schlussfolgerung

Lassen Sie mich nun zum Schluss kommen.

Die Weltwirtschaft steht an einem Wendepunkt, an dem alte Realitäten durch neue Unsicherheiten abgelöst werden.

Aber inmitten all dieser Veränderungen haben manche Dinge unverändert Bestand: Künftiges Wachstum können wir nur dadurch vorantreiben, dass wir neue Ideen entwickeln und die Voraussetzungen dafür schaffen, dass diese sich in unserer Wirtschaft weiterverbreiten und weiter wachsen können.

Um diese Voraussetzungen zu schaffen, muss Europa wichtige Hindernisse überwinden, die der Umsetzung, der Verbreitung und dem Ehrgeiz im Weg stehen. Dies wird nicht einfach sein. Aber wir reden schon zu lange über diese Probleme, statt sie durch konkrete Maßnahmen zu lösen. Wie es Franklin einmal ausdrückte: Gut gemacht ist besser als gut gesagt.[40]

Letztendlich müssen wir eine einfache Entscheidung treffen: Entweder wir bezwingen diese Hindernisse, oder aber die Hindernisse bezwingen uns. Angesichts der Dringlichkeit, der Unterstützung für die Maßnahmen und des Konsens darüber, was Europa tun muss, weiß ich genau, auf welcher Seite ich stehe. Und ich bin zuversichtlich, dass es uns gelingen kann.

Vielen Dank.

  1. B. Franklin, A Dissertation on Liberty and Necessity, Pleasure and Pain, 1725.

  2. A. Manguel, A history of reading, 1997.

  3. Alphabetisierungsquote, 1475 bis 2022 abrufbar auf der Website „Our World in Data“.

  4. Alphabetisierungsquote im Verhältnis zum Pro-Kopf-BIP im Jahr 2022, abrufbar auf der Website „Our World in Data“.

  5. N. Ferguson, The ascent of money: a financial history of the world, 2008.

  6. Die Akzeptanz der Aktiengesellschaft dürfte wohl das begünstigt haben, was einige Wirtschaftshistoriker als die „große Divergenz“ zwischen dem dynamischen Europa und der übrigen Welt bezeichneten. Eine kurze Darstellung der großen Divergenz – ein Konzept, das unter Wirtschaftshistorikern heiß diskutiert wurde – findet sich in R. C. Allen, The great divergence, Oxford University Press, 2011.

  7. Siehe auch C. Lagarde, Die Kapitalmarktunion neu denken, Rede anlässlich des Europäischen Bankenkongresses, 17. November 2023.

  8. Gemessen in den Preisen von 1840. Siehe T. J. Weiss, U.S. Labor Force Estimates and Economic Growth, 1800-1860, in R.E. Gallman und J.J. Wallis (Hrsg.), American Economic Growth and Standards of Living before the Civil War, Chicago University Press, 1992.

  9. Laut dem Wachstumsmodell von Robert M. Solow.

  10. McKinsey Digital, The economic potential of generative AI:The next productivity frontier , 14. June 2023.

  11. Europäische Kommission, Long-term competitiveness of the EU: looking beyond 2030, 16. März 2023.

  12. Atomico, State of European Tech 23 2023.

  13. Europäische Kommission, AI Watch - Evolution of the EU market share of Robotics, JRC Technical Reports, 14. April 2023.

  14. H. Simon, Hidden Champions – Aufbruch nach Globalia: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2012.

  15. The New York Times, Transcript :Ezra Klein Interviews Dario Amodei, 12. April 2024.

  16. IEA, Why AI and energy are the new power couple, 2. November 2023.

  17. IEA, The Role of Critical Minerals in Clean Energy Transitions, Mai 2021.

  18. Risikokapital in Prozent des BIP. Siehe EZB, The EU’s Open Strategic Autonomy from a central banking perspective – challenges to the monetary policy landscape from a changing geopolitical environment, Occasional Paper Series, Nr. 311, Frankfurt am Main, März 2023.

  19. Europäischer Investitionsfonds, Scale-up financing gap, 12. September 2023.

  20. McKinsey Global Institute, Accelerating Europe:Competitiveness for a new era, 16. Januar 2024.

  21. Beispielsweise importiert der Euroraum rund zwei Drittel seiner Energie, die Vereinigten Staaten hingegen führen nur knapp ein Fünftel ein.

  22. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 17./18. April 2024.

  23. China, Südafrika und Demokratische Republik Kongo. Europäische Kommission, Study on the EU's list of critical raw materials – Final report.

  24. Rat der Europäischen Union, Ein EU-Gesetz zu kritischen Rohstoffen für die Zukunft der EU‑Lieferketten.

  25. Internationaler Währungsfonds, World Economic Outlook:Uneven Growth:Short-and Long Term Factors , April 2015.

  26. F. Calvino und C. Criscuolo, Gone digital:Technology diffusion in the digital era , Brookings Institution, 20. Januar 2022.

  27. I. Schnabel, From laggard to leader?Closing the euro area’s technology gap , Vortrag zur Eröffnung des EMU Lab, 16. Februar 2024

  28. Siehe EZB (2023), a. a. O.

  29. Rat der Europäischen Union, Der EU-Binnenmarkt.

  30. Rund 70 %.

  31. I. Schnabel, From laggard to leader?Closing the euro area’s technology gap , Vortrag zur Eröffnung des EMU Lab beim European University Institute, 16. Februar 2024.

  32. J. in ‘t Veld, Quantifying the Economic Effects of the Single Market in a Structural Macromodel, Discussion Paper Series der Europäischen Kommission, Nr. 94, Februar 2019.

  33. Australian Strategic Policy Institute, ASPI’s Critical Technology Tracker – The global race for future power, 22. September 2023.

  34. Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, a. a. O.

  35. Europäische Kommission, Kommission leitet Untersuchung zu subventionierten Elektroautos aus China ein, 4. Oktober 2023.

  36. Eurobarometer, Standard-Eurobarometer 100 – Autumn 2023, 2023.

  37. Eurobarometer, Standard-Eurobarometer 99 – Spring 2023, 2023.

  38. Eurobarometer, Standard-Eurobarometer 100 – Autumn 2023, 2023.

  39. Eurobarometer, The euro area, 2023.

  40. B. Franklin, Des armen Richards Almanach, 1737.

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