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Sabine Lautenschläger: 100 Jahre Frauenwahlrecht – Gleichberechtigung, Freiheit und Demokratie

Rede von Sabine Lautenschläger, Mitglied des Direktoriums der EZB und stellvertretende Vorsitzende des Aufsichtsgremiums der EZB, Jubiläumsauftakt und Buchpremiere „100 Jahre Frauenwahlrecht“
Berlin, 26. Juli 2017

Sehr geehrte Damen und Herren,

„Was wir nicht wollen und niemals, auch nicht in noch so fernen Jahrhunderten, wünschen und bezwecken, ist die politische Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen.“

Das sind natürlich nicht meine Worte. Sie stammen aus dem Jahr 1866; geschrieben hat sie der Politiker Adolf Lette. Und sie lassen tief blicken, meine Damen und Herren, denn Adolf Lette war Gründer eines Vereins, der ein ganz bestimmtes Ziel hatte. Dieser Verein sollte die „Erwerbstätigkeit des weiblichen Geschlechts“ fördern. In gewisser Weise war Lette also ein Vertreter der Gleichberechtigung – für damalige Verhältnisse.

Sein so gar nicht auf Gleichberechtigung zielender Wunsch wurde allerdings nicht erfüllt: Im kommenden Jahr feiern wir 100 Jahre Frauenwahlrecht. Das Wahlrecht für Frauen war ein entscheidender Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung. Denn wer nicht wählen darf, hat keine politische Stimme, und wer keine politische Stimme hat, kann seine Anliegen nicht durchsetzen.

Aber das Wahlrecht war nur der erste Schritt. Es war der erste Schritt einer Reise, die dann eher gemächlich vorangegangen ist.

Erst 1949 wurde im Grundgesetz ausdrücklich festgeschrieben, dass Frauen und Männer gleichberechtigt sind. Und erst 1977 wurde die so genannte Hausfrauenehe als gesetzliches Leitbild aufgegeben. Erst seitdem können Frauen arbeiten gehen, ohne dass der Mann es genehmigen muss.

Finden Sie das genauso schockierend wie ich? Bedenken Sie: Wir reden hier nicht über die graue Vergangenheit; das ist gerade einmal 40 Jahre her!

Es ist natürlich ein gutes Zeichen, dass wir schockiert sind. Denn es zeigt, wie selbstverständlich Gleichberechtigung für uns geworden ist – gerade für junge Menschen.

Aber ist sie wirklich so selbstverständlich?

Ohne Frage hängt der Zugang zu Bildung und Ausbildung nicht mehr vom Geschlecht ab. Beim Abitur und bei Universitätsabschlüssen liegen Frauen sogar leicht vorn.

Schwierig wird es erst später.

Erst nach dem Start ins Berufsleben merken junge Frauen, dass die Gleichberechtigung nicht so weit geht, wie sie dachten. Sie sind zwar unter gleichen Bedingungen gestartet wie ihre männlichen Kollegen, müssen auf der Strecke aber höhere Hürden überwinden.

Sie verdienen oft weniger als ihre männlichen Kollegen, selbst wenn sie genauso gut ausgebildet sind. Sie stoßen an die berühmte gläserne Decke, wenn sie Karriere machen wollen. Und sie sind es vor allem, die Familie und Beruf unter einen Hut bringen müssen – nicht die Männer. Es sind doch meistens die Frauen, die Elternzeit nehmen, und es sind meistens die Frauen, die anschließend in Teilzeit arbeiten und beruflich nicht so weit kommen, wie ihre Ehemänner und Kollegen.

Mein Eindruck ist, dass viele Frauen diese Dinge als persönliche Probleme wahrnehmen. Das sind sie natürlich, aber sie sind noch mehr. Sie betreffen alle Frauen und die ganze Gesellschaft. Und es wird sich nur etwas ändern, wenn wir alle über unseren persönlichen Tellerrand hinausschauen und uns für allgemeine Gleichberechtigung engagieren.

Darum ist mein Appell an alle jungen Frauen: Nehmt Gleichberechtigung nicht als selbstverständlich an! Engagiert Euch! Tretet für Eure Rechte ein und für die Rechte anderer! Das Thema Gleichberechtigung ist noch lange nicht abgeschlossen.

Und ganz nebenbei gesagt: Gleichberechtigung ist natürlich nicht nur ein Thema für die Frauen selbst. Warum sollte es allein Sache der Frau sein, Kinder und Karriere zu vereinbaren? Wo sind die Männer, wo die Väter?

Ich habe manchmal das Gefühl, dass trotz aller Fortschritte einige Rollenmodelle noch zu tief in den Köpfen verankert sind. Und das betrifft nun wiederum nicht nur die Männer, sondern auch uns Frauen. Auch wir sind empfänglich für Stereotype. Studien zeigen, dass Frauen ebenso wie Männer unbewusst nach Geschlecht diskriminieren – auch im Job.

Was wir brauchen, ist ein Kulturwandel. Und der fängt damit an, dass wir nicht nur das Verhalten anderer hinterfragen, sondern auch unser eigenes. Das ist ein wichtiger Schritt, der oft vernachlässigt wird.

Es liegt also an uns allen, für mehr Gleichberechtigung zu sorgen. Aber auch die Politik kann helfen. Sie kann zum Beispiel die Bedingungen verbessern, unter denen Frauen – oder Männer – Beruf und Familie zusammenbringen.

Und dann ist da noch die Wirtschaft. Unternehmen dürfen Gleichberechtigung nicht nur als Marketinginstrument nutzen; sie müssen Gleichberechtigung auch tatsächlich möglich machen. Das ginge zum Beispiel durch flexiblere Arbeitszeiten; Angestellte sollten ihre Zeit freier einteilen können. Warum nicht nachmittags die Kinder aus der Schule abholen und sich abends noch einmal an den Schreibtisch setzen? Schauen Sie nach Schweden. Dort gehört es in Unternehmen zum guten Ton, nach 16 Uhr keine Besprechungen mehr anzusetzen. Wir können also noch einiges lernen, wenn wir uns nur ein wenig umschauen.

Meine Damen und Herren, das Thema Gleichberechtigung hat viele Facetten, einige davon habe ich angesprochen. Ganz allgemein gibt es für mich persönlich drei Dinge, die ich mit den Thema Gleichberechtigung untrennbar verbunden sehe:

Erstens kann es bei Gleichberechtigung nicht nur um Rechte gehen. Denn zu jedem Recht gehört auch eine Pflicht. Ergo bedeutet „gleiche Rechte“ auch „gleiche Pflichten“. Es geht nicht darum, nur die Sahne vom Kaffee zu nehmen, um es mal so zu formulieren. Frauen, die völlige Gleichberechtigung fordern, müssen auch bereit sein, Verantwortung zu übernehmen.

Zweitens betrifft Gleichberechtigung nicht nur die berufliche Elite. Gleichberechtigung betrifft alle. Es muss also um mehr gehen als um Frauenquoten für Aufsichtsräte und Vorstände. Es muss um mehr gehen als um geschlechtsneutrale Formulierungen in Gesetzestexten. Denn all das hilft der Mehrheit der Frauen relativ wenig. Worum es für die Mehrheit gehen muss, sind flexiblere Arbeitszeiten, ein respektvoller Umgang, angemessene Bezahlung, bessere Kinderbetreuung – um nur ein paar Dinge zu nennen.

Drittens geht es bei Gleichberechtigung letztlich um eins: um Freiheit. Jeder soll sein Leben so leben können, wie er möchte. Und jede soll ihr Leben so leben können, wie sie möchte.

Das bedeutet aber auch, dass wir tolerant sein müssen gegenüber unterschiedlichen Lebensmodellen. Wir müssen tolerant sein gegenüber Frauen (und Männern), die ihre Aufgabe zu Hause bei ihrer Familie sehen; wir müssen tolerant sein gegenüber Frauen, die ihre Aufgabe in der Karriere sehen; und wir müssen tolerant sein gegenüber Frauen, die beides für sich beanspruchen: Familie und Karriere.

Und es braucht mehr als Toleranz: Frauen in unterschiedlichen Lebensmodellen dürfen sich nicht auseinander dividieren lassen. Frauen sollten sich niemals zu Aussagen wie „sie ist ja nur Hausfrau“ oder „sie opfert die Kinder der Karriere“ hinreißen lassen.

Trotz all dieser Dinge, können wir eins festhalten: Im Grund ist es ein gutes Zeichen, dass es für uns in Deutschland bei Gleichberechtigung nicht nur, aber oft um die berufliche Karriere geht. Das bedeutet nämlich, dass wir in allen anderen Bereichen offenbar schon sehr weit gekommen sind.

Um das zu erkennen, reicht es schon in andere Länder zu schauen – nach Afrika zum Beispiel. Es gibt Gegenden, in denen Frauen in furchtbaren Umständen leben müssen – Adolf Lette wäre dort auch heute noch ein fortschrittlicher Reformer. Wir müssen also nicht nur über den persönlichen Tellerrand hinausschauen, sondern auch über den nationalen. Global betrachtet, bekommt das Thema Gleichberechtigung dann nochmal eine ganz andere Bedeutung.

Dennoch schreitet die Gleichberechtigung auch global voran. Die ganze Welt im Blick hat zum Beispiel der Global Gender Gap Report des Weltwirtschaftsforums. Er misst die Gleichberechtigungslücke in verschiedenen Bereichen, darunter Wirtschaft, Bildung und Politik. Das Ergebnis: Wenn aktuelle Trends sich fortsetzen, dann könnte die globale Gleichberechtigungslücke in 83 Jahren geschlossen sein. Mädchen, die heute geboren werden, wären zum Ende ihres Lebens also völlig gleichberechtigt.

Dabei gibt es natürlich gewaltige regionale Unterschiede. So schätzt das Weltwirtschaftsforum, dass es in Osteuropa und Zentralasien noch fast 150 Jahre dauern wird, bis völlige Gleichberechtigung herrscht; im Mittleren Osten und Nordafrika dürften es noch fast 130 Jahre sein. Westeuropa steht zumindest im Vergleich ganz gut da: hier sind es nur noch 61 Jahre. Für mich ist das aber alles andere als eine Auszeichnung, sondern vielmehr eine Mahnung, schneller voranzugehen.

Meine Damen und Herren, wir feiern im kommenden Jahr 100 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland. Dabei geht es um Gleichberechtigung, aber es geht auch um Demokratie. Denn wenn die Hälfte der Bevölkerung wirtschaftlich abhängig ist und nicht wählen darf, dann gibt es keine Demokratie. Umso erschreckender ist es, wenn Teile des politischen Spektrums immer noch – oder vielleicht auch wieder – ein Frauenbild verbreiten, das aus der Vergangenheit zu stammen scheint. Wer das tut, versucht zugleich die Demokratie zu schwächen.

Andersherum: Wer für Gleichberechtigung kämpft, kämpft auch für die Demokratie. Und das scheint heute leider immer nötiger zu werden.

Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit.

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