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Wirtschaftliche Perspektiven nach der Krise: historische Erfahrungen, Lehren für jetzt

Vortrag von Jürgen Stark, Mitglied des Direktoriums der EZB am Leipziger Seminar Ökonomie und PraxisLeipzig, 20. Januar 2010

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich danke Ihnen für Ihre Einladung und freue mich, heute Ihre Vortragsreihe für das Jahr 2010 eröffnen zu dürfen.

Die Finanzmarktkrise hat den Euroraum in die stärkste Rezession seit Jahrzehnten geführt. Derartige Zäsuren in der wirtschaftlichen Entwicklung werfen tief greifende Fragen auf: Wie groß und wie dauerhaft sind die Einbußen unseres volkswirtschaftlichen Potenzials? Was muss im Finanzsektor getan werden? Wie bringen wir unsere Volkswirtschaft wieder auf einen gesunden Wachstumspfad?

In meinem Vortrag werde ich die heutigen Entwicklungen in den Kontext vergangener Krisen stellen, um zu sehen, welche Lehren sich hieraus ableiten lassen. Die Geschichte zeigt deutlich, dass Finanzkrisen langfristige Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung haben können. Um dieser Gefahr heute zu begegnen, müssen in mehreren Bereichen Maßnahmen ergriffen werden:

  1. Im Finanzsektor zählen hierzu folgende Maßnahmen:

    1. wo erforderlich, die Rekapitalisierung der Banken, und

    2. die rasche Konsolidierung und Umstrukturierung des Bankensystems.

  2. In der Wirtschaftspolitik müssen Arbeits- sowie Gütermarktrigiditäten beseitigt und ein höherer Grad an Flexibilität angestrebt werden, um strukturelle Ungleichgewichte abzubauen, das Produktionspotenzial zu erhöhen und die Konkurrenzfähigkeit unserer Volkswirtschaften zu stärken.

  3. In der Haushaltspolitik sind glaubwürdige Konsolidierungs- und Ausstiegsstrategien vonnöten, um die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährleisten und das Vertrauen in die Solidität der Staatsfinanzen zu sichern.

Keine dieser Herausforderungen ist leicht zu bewältigen. Sie stellen Entscheidungsträger vor gewaltige Aufgaben für das neue Jahr. Aber es darf kein Zögern beim Handeln geben.

Die jüngste Rezession im Euroraum aus historischer Sicht

Die jüngsten Erfahrungen im Euroraum im Vergleich mit historischen Rezessionen

Beginnen möchte ich mit einem Rückblick auf die Entwicklungen der letzten zwei Jahre. Das Eurogebiet rutschte im zweiten Quartal 2008 in eine dramatische Rezession. Diese Entwicklung war natürlich nicht auf Europa beschränkt. Bei Zugrundelegung der meisten Messgrößen zeigt sich, dass sich die globale Wirtschaft in ihrer schwersten Krise seit der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre befand.

Die Kräfte, die zu der ausgeprägten Kontraktion der Volkswirtschaften im Euroraum und weltweit geführt haben, wurden inzwischen ausführlich erörtert. Sie werden für Generationen von Ökonomen und Historikern Stoff für Forschung und Analysen bieten. Im globalen Finanzsystem gab es Fehlanreize sowie ein Gewirr von übermäßig komplexen Finanzprodukten, es herrschten übersteigerte Risikobereitschaft, mangelhaftes Risikomanagement sowie unzureichende Regulierung und Aufsicht. Viele Segmente des weltweiten Finanzsektors zeichneten sich durch einen hohen Verschuldungsgrad und großes Kreditengagement aus. Den gesamtwirtschaftlichen Hintergrund bildeten reichliche globale Liquidität und nationale Ungleichgewichte. Einige Länder verfügten über hohe Ersparnisse und starke Nettopositionen gegenüber dem Ausland, während andere Länder eine hohe Verschuldung und Immobilienpreisblasen aufwiesen. Als der Boom an den Wohnimmobilienmärkten einzubrechen drohte, wurde die Fragilität des Finanzsystems offensichtlich – die Anleger reagierten panisch, das Vertrauen schwand. Die Preise für viele Anlageklassen und Märkte brachen ein. Anfänglich war der Abschwung in den Vereinigten Staaten stärker ausgeprägt. Der Konjunktureinbruch im Euroraum folgte aber kurz darauf.

Heute – nach 1 ½ äußerst schwierigen Jahren – zeigt sich, dass das reale Wachstum des BIP für den Euroraum auf Quartalsbasis im zweiten Halbjahr 2009 wieder leicht positiv geworden ist. Hierbei hat der Euroraum sicherlich von der Erholung der globalen Nachfrage profitiert. Diese ist innerhalb wie außerhalb des Euroraums teilweise von einer expansiven Fiskalpolitik getragen worden. Gleichzeitig können wir auch eine Verbesserung bei den Indikatoren des Konsumenten- und Produzentenvertrauens sowie einen erneuten Aufbau von Lagerbeständen verzeichnen, deren Auflösung zuvor erheblich zum Nachfrageverfall während der Krise beigetragen hatte.

Trotz dieser Konjunkturbelebung bleibt der Ausblick für die wirtschaftliche Entwicklung äußerst unsicher. Hier zeigt uns ein Blick in die Vergangenheit, dass die Wachstumsschwäche bei systemischen Finanzkrisen über einen längeren Zeitraum andauern kann.

Es ist wahrscheinlich, dass das erste Halbjahr 20190 etwas verhaltener verläuft als das zweite Halbjahr 2009. Es dürfte sich dann aber nicht um Anzeichen eines erneuten Abschwungs („double dip“) handeln, sondern eher um die Charakteristika einer graduellen und „holprigen“ wirtschaftlichen Erholung in den nächsten Quartalen.

Von dieser graduellen wirtschaftlichen Erholung im Eurogebiet – das zeigt unsere wirtschaftliche Analyse – gehen derzeit keine erkennbaren Risiken für die Preisstabilität aus. Das bestätigt auch unsere monetäre Analyse. Allerdings müssen die Effekte der weiteren Rohstoffpreisentwicklung sehr genau beobachtet werden. Ein stärkeres Wachstum der Weltwirtschaft birgt das Risiko steigender Rohstoffpreise. Auch die Haushaltspolitiken sind im Auge zu behalten, wenn es um das Erkennen möglicher langfristiger Inflationsrisiken geht.

[Folie 2 – BIP-Entwicklung während früherer Rezessionen und Krisen]

Die Grafik fasst die Wirtschaftsentwicklung der industrialisierten OECD-Volkswirtschaften während Konjunkturabschwüngen seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts zusammen. Mit Blick auf die aktuelle Situation ist es sinnvoll, sich auf Phasen mit verstärkten Finanzmarktspannungen zu konzentrieren.

Historisch gesehen unterscheiden sich gewöhnliche oder „normale“ Rezessionen hinsichtlich ihrer Tiefe und Dauer von solchen, die mit Bankenkrisen zusammenhängen. Bei „normalen“ Zyklen folgt auf einen Einbruch der Wirtschaftstätigkeit für gewöhnlich eine rasche Erholung, sodass sich ein V-förmiger Verlauf ergibt. Bei systemischen Krisen hält die Konjunkturschwäche länger an, wodurch die Kurve eine U-Form annimmt. Es zeigt sich, dass das Ausmaß der aktuellen Krise über den realwirtschaftlichen Einbruch früherer Finanzkrisen hinausgeht.

[Folie 3 – Beschäftigung während früherer Rezessionen und Krisen]

Für den Arbeitsmarkt zeigt sich ebenso, dass Finanzmarktkrisen eine nachhaltigere negative Entwicklung mit sich bringen als andere Konjunkturabschwünge. Im Euroraum hat die Krise bisher zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote von 7,2 % im März 2008 auf 10 % im November vergangenen Jahres geführt. Gemessen am starken Rückgang des BIP erscheint das noch relativ moderat. Während des derzeitigen Wirtschaftsabschwungs im Euroraum wurde die Anpassung der Beschäftigung aber zum Großteil durch eine Verringerung der Arbeitsstunden je Arbeitnehmer und das Horten von Arbeitskräften seitens der Unternehmen abgefedert. Viele Länder des Eurogebiets haben spezielle Arbeitszeitregelungen getroffen, um die Stabilität der Beschäftigung erhalten zu können – hier nur das Stichwort „Kurzarbeit“ als eine Maßnahme. Derartige Regelungen helfen aber nur als kurzfristige Überbrückung. Sie können nicht notwendige Korrekturen unterbinden, wenn es zu strukturellen Verschiebungen in der Produktion kommt.

Die Auswirkungen der Krise auf das Potenzialwachstum

Der historische Vergleich lehrt uns, dass schwere Finanzkrisen oft einen deutlichen Rückgang der Produktion, eine verhaltene Erholung und eine über einen längeren Zeitraum unterdurchschnittliche Wirtschaftsleistung mit sich bringen.

Warum dem so ist – und warum sich auch für den Euroraum vor dem Hintergrund dieser Erfahrung eher eine graduelle Erholung erwarten lässt –, wird klarer, wenn man sich die Auswirkungen der Krise auf das Potenzial der Wirtschaft vor Augen führt. [1]

Eine Abwärtsverschiebung des Niveaus des Produktionspotenzials durch Finanzkrisen kann sich aus verschiedenen Faktoren ergeben: Der Aufbau von Überkapazitäten vor der Krise kann zum Verlust oder einer höheren Abzinsung vergangener Investitionen führen, was eine Verringerung des Kapitalstocks nach sich zieht. Im aktuellen Abschwung könnte dieses Argument beispielsweise für das Baugewerbe, den Automobil- und den Finanzsektor besonders relevant sein. Gleichzeitig kann ein starker Personalabbau zu einem Verlust von arbeitsrelevanten Fähigkeiten führen und die strukturelle Arbeitslosenquote nach oben verschieben. Drittens führen Verwerfungen am Kapitalmarkt durch Finanzierungs­beschränkungen zu Effizienzeinbußen in der Volkswirtschaft.

Die Erfahrungen aus früheren Finanzkrisen sind recht breit gefächert. Sie deuten aber darauf hin, dass das Niveau des Produktionspotenzials nach schweren Finanzkrisen in der Regel nicht wieder zum alten Trend zurückkehrt, sondern auf Dauer darunter liegt. Empirische Untersuchungen der OECD legen nahe, dass schwere Finanzkrisen das Niveau des Produktionspotenzials dauerhaft um rund 4 % verringern, während „normale“ Rezessionen zu einem Rückgang des Produktionspotenzials in der Bandbreite von 1,5 % bis 2,4 % führen. [2]

[Folie 4 – Projektionen zum Potenzialwachstum vom IWF, der Europäischen Kommission und der OECD]

Die aktuellen Projektionen der Europäischen Kommission, des IWF und der OECD zeigen übereinstimmend, dass die aktuelle Krise das Niveau des Produktionspotenzials des Euroraums gedrückt haben dürfte. Auch wenn die Messung des Produktionspotenzials erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt und solche Schätzungen nicht überbewertet werden sollten, kann man berechtigt auch für den Euroraum von einer solchen Verringerung des Produktionspotenzials durch Investitionsschwäche und Beschäftigungsverluste ausgehen.

Die Auswirkungen für die längerfristige Wachstumsrate des Produktionspotenzials sind schwerer feststellbar. Hier kommen politische Entscheidungen über Maßnahmen ins Spiel, die Auswirkungen der Krise auf das Produktionspotenzial zu lindern. Die unterschiedlichen Erfahrungen der Vergangenheit veranschaulichen: Es lohnt sich, die Krise als Chance für einen neuen Wachstumspfad zu begreifen.

[ Folie 5 – Entwicklung des Produktionspotenzials in Schweden, Finnland und Japan]

Schauen wir auf die Erfahrungen in Schweden, Finnland und Japan nach den Finanzkrisen der 1990er Jahre: In Schweden und Finnland führten die tiefen Rezessionen nicht zu einer Verringerung des langfristigen Potenzialwachstums. Beide Länder profitierten sicherlich von den günstigen Wechselkursbewegungen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit verbesserten. Trotzdem gab es einen eindeutigen Reformbeitrag. Vor allem dank einer prompten Lösung der jeweiligen Probleme im Bankensektor und einer erheblichen Umstrukturierung der Volkswirtschaften, die Innovationen förderte und eine drastische Verbesserung der totalen Faktorproduktivität bewirkte, konnte sich das Potenzialwachstum beider Länder relativ rasch und kräftig erholen. Im Gegensatz dazu trug eine zögerliche politische Reaktion auf die Finanzkrise in Japan – insbesondere die unzureichende Rekapitalisierung des japanischen Bankensystems – kombiniert mit zunehmendem Wettbewerbsdruck aus den aufstrebenden Volkswirtschaften dazu bei, dass sich dort das langfristige Potenzialwachstum im Verlauf der 1990er Jahre abschwächte.

Lehren aus der Finanzkrise

Was sind die Reformanforderungen heute? Ich möchte nun etwas ausführlicher auf drei der Lehren eingehen, die wir aus den Krisenerfahrungen ziehen müssen, und Reformerfordernisse für den Finanzsektor, die Strukturpolitik und die öffentlichen Finanzen formulieren.

Der Finanzsektor – die Lehren aus den Erfahrungen in Japan

Die erste eindeutige Lehre aus den jüngsten Ereignissen ist die Einsicht in die inhärente Instabilität bestehender Finanzmarktstrukturen und die Notwendigkeit umfassender Reformen, die alle Teile des Finanzsektors einbeziehen. Was die Reformen letztlich erreichen sollen, ist klar: Der Finanzsektor und insbesondere die Banken müssen der Volkswirtschaft wieder den bestmöglichen Dienst in ihrer grundlegenden Funktion, der Intermediation von Finanzmitteln zwischen Sparern und Investoren, bieten.

Ein funktionierender Finanzsektor, der eine effiziente Kapitalallokation gewährleistet, ist eine Bedingung für eine nachhaltige Wachstumssteigerung. Die Erfahrungen der „verlorenen Dekade“ in Japan haben uns besonders deutlich vor Augen geführt, welche Folgen es haben kann, wenn entschlossene und glaubwürdige Maßnahmen ausbleiben, insbesondere die Rekapitalisierung die Banken.

Die Krise stellte Japan vor ungemein große Herausforderungen. Die Wirtschaft war wie eben gezeigt durch ausbleibendes Wachstum, negative Inflationsraten und eine explosionsartig steigende Staatsverschuldung gekennzeichnet.

[Folie 6 – Bruttoverschuldung Japans (1980-2009)]

Besonders kritisch waren die gravierenden Probleme im japanischen Bankensektor. Die leicht erhältlichen Kredite, die die Überbewertung der Immobilienpreise vor der Krise gestützt hatten, führten zu einem massiven Bestand an notleidenden Krediten in den Büchern der Banken. In dieser Situation verfügten die Banken nicht über ausreichend Kapital, um die Kredite abzuschreiben. Die notwendigen Entscheidungen blieben aus. Die Korrektur des Kreditproblems wurde sogar noch erschwert, als die Regierung begann, zahlungsunfähige Banken und Unternehmen zu subventionieren. In der Folge entstanden sogenannte „Zombie-Unternehmen“, die ohne diese Hilfestellung nicht überlebt hätten. Damit verstetigte sich der große Bestand notleidender Kredite, er belastete weiterhin die japanischen Finanzinstitute und schränkte ihre Fähigkeit ein, neue Kredite an die Wirtschaft zu vergeben.

[Folie 7 – Notleidende Kredite von Großbanken und die Kreditvergabe in Japan]

Wenn wir uns nun der aktuellen Lage der europäischen Finanzinstitute zuwenden, sehen wir, dass sie sich auch aufgrund der Maßnahmen der Regierungen über Garantien und Rekapitalisierung beträchtlich erholt haben. Trotzdem bleibt selbstverständlich noch viel zu tun. Mehrere Banken im System sind weiterhin auf Stützungsmaßnahmen angewiesen. Außerdem gibt es einige Hinweise auf eine Verschlechterung der Kreditqualität, was auf eine neue Abschreibungswelle hindeuten könnte. Sollten Schuldenabbau und Kreditausfälle zeitgleich erfolgen, könnten sie eine Ausweitung der Kreditvergabe an die Realwirtschaft behindern.

Zu einer dauerhaften Lösung des Problems, die das Finanzsystem institutionell auf gesunde Füße stellt, gehören meines Erachtens im Wesentlichen vier Elemente:

  • Eine adäquate Kapitalausstattung der Finanzinstitute und eine Reduzierung der Fremdkapitalquote das sogenannte „Deleveraging“. Die prozyklischen Tendenzen der Finanzströme müssen abgeschwächt werden, indem man die Qualität und Quantität des Bankkapitals verbessert.

  • Die Konsolidierung des Bankensektors. Das gilt insbesondere für Länder mit einem überdehnten Bankensystem und Banken ohne tragfähiges Geschäftsmodel.

  • Die Schaffung höherer Markttransparenz. Marktteilnehmer und Aufseher müssen in der Lage sein, die Konsequenzen und Risiken von Produkten vollständig zu bewerten. Hierzu könnte eine Standardisierung von Produkten erheblich beitragen.

  • Eine Verbesserung der Bankenregulierung in bisher nicht regulierten Bereichen und die Stärkung der Bankenaufsicht. Parallel hierzu wird die makroprudenzielle Aufsicht durch den Europäischen Ausschuss für Systemrisiken (European Systemic Risk Board) durchgeführt, um Risiken auf makroökonomischer Ebene früher und besser zu erfassen.

Ungleichgewichte und die Stärkung der Wirtschaftskraft

Auf diese Makrorisiken bezieht sich auch die zweite Lehre aus der Finanzkrise. Es erscheint jetzt mehr denn je geboten, makroökonomischen Ungleichgewichten – ihren Ursachen und den Anpassungsprozessen zu ihrer Überwindung – größere Beachtung beizumessen.

In mehreren Ländern – wie den USA, dem Vereinigten Königreich, einigen osteuropäischen Ländern und auch einigen Euro-Ländern – zählten überbordende Immobilienpreise, ein enormes Kreditwachstum und wachsende Leistungsbilanzdefizite zu den Ungleichgewichten.

[Folie 8 - Leistungsbilanzentwicklung der Euro-Länder]

Diese Länder nahmen Kredite auf, um den privaten und staatlichen Verbrauch sowie Investitionen (vor allem im Zusammenhang mit Wohnbauten und gewerblichen Bauten) zu finanzieren. Hierbei legten sie Erwartungen der Verbraucher und Unternehmen zu künftigen Einkommens- und Gewinnaussichten zugrunde, die – wie wir heute wissen – allzu optimistisch waren. Die Krise hat nun in den genannten Ländern zu einer mehr oder weniger ungeordneten, partiellen Korrektur dieser Ungleichgewichte geführt.

Außerhalb einer Währungsunion kann die Korrektur der Leistungsbilanz und die Wiederherstellung der Konkurrenzfähigkeit durch eine Wechselkursabwertung gestützt werden. In einer Währungsunion gelten andere Gesetze. Den Ländern des Eurogebiets steht der nominale Wechselkurs nicht mehr direkt als Anpassungsmechanismus zur Verfügung. Die Verbesserung der Konkurrenzfähigkeit muss vielmehr durch Änderungen der relativen Preise und Faktorkosten erreicht werden.

Betrachten wir die Euro-Länder unter diesem Gesichtspunkt, so wird deutlich, dass sich einige von ihnen seit Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion nicht an die neuen Bedingungen angepasst haben und über einen längeren Zeitraum hinweg beachtliche Wettbewerbsverluste aufgebaut haben.

[Folie 9 - Lohnstückkostenentwicklung in Euro-Ländern]

Dies zeigt sich unter anderem an der kräftigen Zunahme der Lohnstückkosten, die einen starken Lohnanstieg im Verhältnis zu einem in manchen Fällen ausgesprochen schwachen Produktivitätswachstum erkennen lassen. Die derzeitigen Projektionen weisen hinsichtlich der Entwicklungen in der näheren Zukunft nicht darauf hin, dass sich in allen Ländern die Einsicht und der Wille zu einer fundamentalen Politikänderung durchgesetzt haben.

Es kann natürlich gute wirtschaftliche Gründe für unterschiedliche Entwicklungen der Wettbewerbsfähigkeit und abweichende Leistungsbilanzpositionen innerhalb einer Währungsunion geben. Unter anderem bei langfristigen Aufholprozessen mit einem recht starken trendmäßigen Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens können relativ kräftige Lohn- und Preiszuwächse und zeitweise externe Defizite der Wirtschaft vertretbar sein. In einigen Ländern des Eurogebiets standen solche Wettbewerbsverluste allerdings eher im Zusammenhang mit der bereits genannten kräftig gestiegenen Inlandsnachfrage aufgrund allzu optimistischer Erwartungen. Lohnsetzungsmechanismen – wie die Indexierung von Löhnen und Preisen – und eine nicht hinreichend restriktive Haushaltspolitik kamen dann unter Umständen noch hinzu oder verschlimmerten die Lage.

Die Kumulation von relativen Einbußen an Wettbewerbsfähigkeit und das Entstehen von Ungleichgewichten im Inland müssen jetzt korrigiert werden, damit diese Länder wieder auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückkehren können. In einem Umfeld flexibler Löhne und Preise könnte diese Anpassung zügig und ohne übermäßige Verluste bei Produktion und Beschäftigung vonstatten gehen. Wenn die betreffende Volkswirtschaft aber unter strukturellen Rigiditäten an den Güter- und Arbeitsmärkten leidet, wird es letztlich zu einem langwierigeren und schmerzhafteren Anpassungsprozess kommen.

Daher sind in diesen Ländern ernsthafte wirtschaftspolitische Reformen geboten. Das heißt erstens, die Herstellung der notwendigen Lohnflexibilität – und gegebenenfalls gehört hierzu auch eine Phase deutlicher und bewusster Lohnzurückhaltung in bestimmten Sektoren.

Zweitens sollte mit Blick auf die Zukunft eine Politik eingeleitet werden, die den Aufbau ausreichender Ressourcen – sagen wir „Schutzpolster“ – im öffentlichen Sektor zu gewährleisten. Das heißt, die öffentlichen Haushaltsdefizite sind ernsthaft zurückzuführen – durch Ausgabenkürzungen, aber auch – wo erforderlich - durch Steuererhöhungen. Auch in den Bilanzen des Unternehmenssektors und der privaten Haushalte sind Puffer zu bilden, um die Verletzlichkeit der Volkswirtschaft im Anpassungsprozess zu verringern. Einige Länder müssen verstärkt wieder heimische Ersparnisse aufbauen.

Drittens sollten Länder insbesondere das Produktivitätswachstum stärken, um ihre Konkurrenzfähigkeit zu erhöhen und die Anfälligkeit gegenüber zukünftigen Schocks zu verringern.

Mit unterschiedlicher Gewichtung treffen diese Empfehlungen auf die „Defizitländer“ des Eurogebiets zu. Insbesondere für Griechenland liegt die oberste Priorität derzeit sicherlich bei einer grundsätzlichen Umorientierung der Wirtschaftspolitik und einem umfassenden Konsolidierungsprogramm. Griechenland weiß, dass es seine Hausaufgaben nachholen muss. Wie der Präsident der EZB kürzlich festgestellt hat, werden wir unsere Regeln nicht ändern und von politischer Seite wurde auf die Anwendung der Regeln der Währungsunion hingewiesen, wie sie im Vertrag über die Arbeitsweise der EU festgeschrieben sind.

Regierungen in anderen Ländern können deshalb aber nicht die Hände in den Schoß legen. Länder mit Wettbewerbsnachteilen und Ungleichgewichten stehen unter einem besonderen Anpassungsdruck, die Verantwortung für die Stärkung des Potenzialwachstums gilt jedoch für alle Mitgliedstaaten. Auch in Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen wie Deutschland gilt es, die Investitionen in zukunftsweisenden Sektoren zu stärken, Mechanismen struktureller Anpassung zu schaffen, wenn Überkapazitäten bestehen, die Reintegration der Arbeitslosen zu erleichtern und Schwächen technologischen Fortschritts auszugleichen.

Flexibilität an den Arbeits- und Gütermärkten in Europa und die Steigerung des Wachstumspotenzials bilden den Kern der politischen Agenda der Lissabon-Strategie. Derzeit laufen Vorbereitungen für die Nachfolge der Lissabon-Strategie – die „EU-2020-Strategie“. Nach Auffassung der EZB sollte auch der Schwerpunkt dieser neuen Strategie auf der Steigerung des Potenzialwachstums und auf Maßnahmen zur Schaffung eines hohen Beschäftigungsniveaus liegen.

Die finanzpolitischen Dimensionen der Krise

Nun komme ich auf die Agenda für die Finanzpolitik zu sprechen. Eine dritte Lehre aus der Krise ist, dass solche Wirtschaftszäsuren ausgesprochen hohe budgetäre Risiken bergen und ein fiskalpolitisches Gegensteuern der Kriseneffekte sehr kostspielig ist. In dieser Hinsicht bestätigt die aktuelle Erfahrung historische Muster.

[Folie 10 – Die fiskalischen Kosten der Krise]

Der projizierte kräftige Anstieg der Defizite und Schuldenstände der öffentlichen Haushalte in den Euro-Ländern gibt Anlass zu großer Besorgnis. Der Europäischen Kommission zufolge lag die Defizitquote im Eurogebiet 2009 bei 6 ½ % des BIP und soll dieses Jahr weiter auf rund 7 % steigen. Nur ein Teil dieses Anstiegs ist auf die Wirkung automatischer Stabilisatoren oder direkt auf Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft zurückzuführen, die höhere Defizitquote spiegelt auch strukturelle Einnahmerückgänge und Ausgabenzuwächse über dem Trendwachstum wider. Die staatliche Schuldenquote, die sich im Jahr 2008 auf nahe 70 % des BIP belief, dürfte sich 2010 auf 84 % erhöhen.

13 der 16 Mitgliedstaaten des Euroraums stehen derzeit vor einem Verfahren bei einem übermäßigen Defizit, da sie das im Maastrichter Vertrag festgelegte maximale Haushaltsdefizit von 3 % des BIP überschreiten. Die Defizite einiger Länder dürften auf zweistellige Werte steigen, was mit Herabstufungen des Länder-Ratings und nachteiligen Finanzmarktreaktionen, beispielsweise in Form größerer Renditeabstände von Staatsanleihen, einhergeht.

[Folie 11 - Schuldenszenarien]

Es ist daher unabdingbar, dass nach der krisenbedingten deutlichen Lockerung der Haushaltspolitik nun der Ausstieg aus diesen Maßnahmen eingeleitet wird. Andernfalls dürfte der öffentliche Schuldenstand im Euroraum rasch auf Werte von über 100 % des BIP ansteigen, wobei diese Zahl in einigen Ländern noch weitaus höher ausfallen könnte.

Das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen könnte hierdurch erheblichen Schaden nehmen. Noch besorgniserregender ist dies angesichts der beträchtlichen finanzpolitischen Risiken, die auf mittlere bis lange Sicht bestehen. Diese stehen im Zusammenhang mit den Eventualverbindlichkeiten, die Regierungen im Rahmen ihrer Bankenrettungspakete eingegangen sind, und mit den für viele Euro-Länder aufgrund der Bevölkerungsalterung erwarteten höheren Staatsausgaben. Eine nicht tragfähige Schuldenentwicklung würde einen Aufwärtsdruck auf die Zinsen ausüben, was wiederum das Risiko birgt, dass private Investitionen verdrängt werden. Dies hätte negative Folgen für die langfristige Wirtschaftsentwicklung.

Die nationalen Entscheidungsträger sollten daher so bald wie möglich über ehrgeizige Strategien zur Haushaltskonsolidierung entscheiden, diese durch solide ausgearbeitete und glaubwürdige Maßnahmen untermauern und umsetzen. Natürlich muss der Zeitpunkt des Ausstiegs aus der äußerst expansiven Fiskalpolitik sorgsam gewählt werden. Dies bleibt eine besondere Herausforderung für die Regierungen. Zu späte Korrekturen haben langfristig negative Folgen – das sollte nicht vergessen werden. Auf europäischer Ebene haben wir hierfür ein geeignetes Koordinierungs- und Überwachungsinstrument, den Stabilitäts- und Wachstumspakt. Im derzeitigen Umfeld ist es sehr wichtig, dass die Regierungen die Bestimmungen des Pakts strikt anwenden, damit seine bedeutende Funktion als Stabilitätsanker für die öffentlichen Finanzen Europas nicht gefährdet wird. Was die Verfahrensschritte anbelangt, so entschied der ECOFIN-Rat am 2. Dezember 2009 über länderspezifische Fristen und Konsolidierungsanforderungen zur Korrektur von Haushaltsdefiziten oberhalb des im Maastrichter Vertrag festgelegten Referenzwerts von 3 % des BIP. Konkret bedeutet dies, dass die meisten Euro-Länder ihr übermäßiges Defizit bis zum Jahr 2013 zu korrigieren haben, wobei prinzipiell in diesem Jahr (2010) mit der Haushaltskonsolidierung begonnen werden sollte. In vielen Ländern bedarf es einer beträchtlichen Konsolidierung und entschlossener sowie ehrgeiziger Maßnahmen, um zu soliden und nachhaltigen Staatsfinanzen zurückzukehren.

Die Erfahrung legt nahe, dass die Haushaltskonsolidierung in der Regel erfolgreicher und nachhaltiger ist, wenn der Schwerpunkt auf der Ausgabenseite liegt. Außerdem würden die Verzerrungseffekte von Steuererhöhungen Investitions- und Arbeitsanreize untergraben, was im Hinblick auf die erwartete schleppende Wirtschaftserholung zu vermeiden ist.

Ferner sollten die finanzpolitischen Institutionen auf nationaler Ebene die Haushaltsdisziplin fördern. Gut ausgearbeitete diesbezügliche Regeln, die den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzen, könnten das politische Bekenntnis zu soliden und nachhaltigen öffentlichen Finanzen stärken.

Einige kurze Schlussfolgerungen

Ich komme nun zu meinen Schlussfolgerungen.

Finanzkrisen haben langfristige Auswirkungen. Die jetzige Krise hat sicherlich auch zu Einbußen des Produktionspotenzials des Euroraums geführt. Das muss Anlass sein, durch Strukturreformen an der zügigen und dauerhaften Erholung des Wirtschaftswachstums zu arbeiten. Die Lehren der Krise – und ich habe drei zentrale herausgegriffen – zeigen, dass Reformbedarf in verschiedenen Politikfeldern besteht.

Im Finanzsektor müssen tragfähigere Strukturen und Geschäftspraktiken entwickelt werden.

Länder, die mit lang anhaltenden Wettbewerbsverlusten und makroökonomischen Ungleichgewichten zu kämpfen haben, müssen besondere Anstrengungen unternehmen.

In der Finanzpolitik sind glaubwürdige Konsolidierungs- und Ausstiegsstrategien vonnöten, um hohe und weiter stark steigende Haushaltsungleichgewichte zu korrigieren.

Das alles ist kein Selbstzweck. Es geht darum, die Weichen für einen höheren Wachstumspfad in der Zukunft zu stellen und die zusätzlichen Belastungen aus der jetzigen Krise für künftige Generationen zu begrenzen.

Es geht des Weiteren auch darum, die internen Ungleichgewichte im Euroraum abzubauen. Dies ist dringend und in allererster Linie Aufgabe der Länder, die in den letzten Jahren über ihre Verhältnisse gelebt haben und infolge einer unzureichenden Anpassungspolitik Wettbewerbsverluste hinnehmen mussten. Diese Korrekturen werden zum Teil schmerzlich sein. Aber auch sie sind notwendig – im Interesse der Förderung des Gemeinwohls, im Interesse des reibungslosen Funktionierens der Wirtschafts- und Währungsunion und in der Verantwortung gegenüber unserer gemeinsamen Währung. Denn die Währungsunion ist eine Schicksalsgemeinschaft, zu deren Erfolg alle beitragen müssen.

  1. [1]Siehe EZB, Schätzungen des Produktionspotenzials für das Euro-Währungsgebiet, Kasten 4, Monatsbericht Juli 2009. Siehe auch Europäische Kommission, 2009, Impact of the current economic and financial crisis on potential output, European Economy, Occasional Paper 49, Juni 2009; IWF, 2009, What’s the damage? Medium-term output dynamics after financial crises, Kapitel 4, World Economic Outlook, Oktober 2009.

    [2]OECD, 2009, The effect of financial crises on potential output: new empirical evidence from OECD countries, D. Fuceri und A. Mourougane, OECD Working Paper 699.

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