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  • 14. Mai 2020

Interview mit „Der Standard“

Interview mit Fabio Panetta, Mitglied des EZB-Direktoriums, geführt von Andras Szigetvari am 6. Mai und veröffentlicht am 14. Mai.

Standard: Die Europäische Zentralbank hat als Folge der Krise ein neues Notprogramm gestartet: Sie wird bis Jahresende Anleihen, vor allem von Staaten, im Wert von 750 Milliarden Euro kaufen. Dürfen Staaten jetzt eigentlich beliebig viel Schulden machen dank der EZB? Die Zentralbank kauft Staatsanleihen auf. Gleichzeitig hat die EU-Kommission jene Regeln, die begrenzen, wie viel neue Schulden ein Staat machen darf, ausgesetzt.?

Panetta: Wir erleben gerade einen schweren wirtschaftlichen Schock. Die erste und wichtigste Aufgabe ist es nun, die Produktionskapazitäten in der Eurozone aufrechtzuerhalten. Die Krise trifft starke wie schwache Unternehmen, weil von einem Tag auf den anderen die Einnahmen der Betriebe weggebrochen sind. Da wäre es ein sehr schwerer Fehler, lebensfähige Unternehmen Pleite gehen zu lassen und Produktionskapazitäten zu verlieren, die wir für den Aufschwung brauchen. Unsere Geldpolitik verbessert die Finanzierungsbedingungen in allen Bereichen der Wirtschaft; dadurch ergänzt und verstärkt sie die europäischen und nationalen Maßnahmen, die zur Förderung der Wirtschaft ergriffen wurden. Und je besser wir unsere Produktionskapazitäten heute schützen, desto leichter lässt sich Verschuldung in Zukunft managen.

Standard: Italien hat erst vor wenigen Tagen ein gewaltiges Wiederaufbauprogramm in Höhe von 50 Milliarden Euro angekündigt. Interessanterweise sind die Zinsen für Italiens Schulden gefallen. In normalen Zeiten war das immer anders: Wenn ein südeuropäisches Land höhere Ausgaben angekündigt hat, sind die Zinsen gestiegen.

Panetta: Es gibt kein Naturgesetz, wonach die Risikoaufschläge für ein Land hochgehen, nur weil es mehr Geld ausgeben will. Wenn ein Staat höhere Ausgaben ankündigt, obwohl es dafür keinen Grund gibt, wäre das prozyklisch und würde die wirtschaftlichen Risiken erhöhen, und letztlich steigen dann die Zinsen. Aber wenn ein Land seine wirtschaftlichen Risiken antizyklisch reduziert und die Geldpolitik parallel dazu die Wirtschaft stabilisiert, gehen die Risikoaufschläge typischerweise nach unten. Es wäre viel schlimmer, wenn die Haushaltspolitik in der gegenwärtigen Situation nicht genutzt würde, Geld auszugeben; auch in Staaten, in denen die Verschuldung relativ hoch ist.

STANDARD: Was fürchten Sie aktuell mehr, erhöhte Inflation, weil die EZB so viel Geld in den Markt pumpt oder Deflation, also einen Rückgang der Preise.

Panetta: Aktuell sind wir mit einer Situation konfrontiert, in der Unternehmen ihre Waren und Dienstleistungen nicht richtig anbieten können. Aber das ist nur ein Teil der Geschichte: Die herrschende Unsicherheit und die höhere Arbeitslosigkeit beeinträchtigen die Nachfrage stark. Hinzu kommt der Einfluss des billigen Öls, die schwache internationale Nachfrage und eine schwache Handelsentwicklung. All das wirkt dem Preisauftrieb entgegen. Das ist eindeutig ein Umfeld, das die Inflation dämpft.

Standard: Dann muss also die EZB noch stärker eingreifen, um eine Deflation zu vermeiden?

Panetta: Wir werden alles tun, was nötig ist, um die Preisstabilität zu sichern wie es unserem Mandat entspricht und disinflationäre oder gar deflationäre Risiken zu vermeiden. Wir bleiben entschlossen, keine Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen zuzulassen, solange die wirtschaftlichen Schäden durch COVID-19 andauern. Wir haben alle nötigen Werkzeuge und werden sie weiterhin entschlossen nutzen.

Standard: Aber sollte die Erholung 2021 einsetzen und der Ölpreis steigen: Besteht dann nicht die Gefahr einer deutlich höheren Inflation?

Panetta: Das würde ich nicht erwarten. In den kommenden zwei bis drei Jahren gehen wir davon aus, dass die Inflation sehr niedrig bleiben wird, deutlich unterhalb unserer Definition von Preisstabilität. Was in zehn Jahren geschieht, weiß ich nicht Aber marktbasierende Indikatoren für längerfristige Inflationserwartungen verharren auf niedrigem Niveau.

Standard: Müsste die EZB ihr Inflationsziel dann aber nicht ändern? Die Inflation ist schon seit Jahren unter ihrem Zielwert von nahe, aber unter zwei Prozent. Nun sagen Sie, es bleibt noch länger so. Warum nicht die Ziele dem Machbaren anpassen?

Panetta: Das wäre nicht klug. Es gibt gute Gründe, weshalb wir unser Ziel von nahe, aber unter zwei Prozent gewählt haben. Erstens, es gibt uns einen Sicherheitsabstand zum deflationären Bereich, mögliche Unterschiede im Preisniveau zwischen den Staaten einbegriffen. Und es ist extrem schwer und extrem teuer aus einer deflationären Lage herauszukommen. Dieser Abstand ist auch wichtig, weil er impliziert, dass die nominalen Zinssätze höher sind. Dies sorgt für mehr Spielraum bei der geldpolitischen Akkomodierung und erleichtert eine Anpassung der Reallöhne.

Bei der Messung der Inflation kann es auch zu Verzerrungen kommen, weil sich im Preisauftrieb auch Qualitätsverbesserungen von Waren widerspiegeln können. Dies bedeutet, dass die gemessene Inflation immer etwas höher als die eigentliche Inflation ist. Eine US-Studie hat geschätzt, dass diese Verzerrung bis zu ein Prozent beträgt.

Standard: Aktuell pumpen die Staaten viel Geld in den Wirtschaftskreislauf, überall gehen die Ausgaben hoch. Zugleich stützt die EZB das ihrerseits ab. Wann kann die alte Normalität zurückkehren?

Panetta: Um Einstein abzuwandeln: Sobald wie möglich, aber nicht früher. Es wäre kontraproduktiv, wenn wir uns nun abmühten, die Wirtschaft am Laufen zu halten und dann die politische Unterstützung zu früh wieder abschalteten. Was würde geschehen? Das Wachstum wäre sofort wieder weg. Auf der geldpolitischen Seite müssen wir sicherstellen, dass die Inflation nachhaltig in Richtung unseres Ziels geht. Und auf der Haushaltsseite ist ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum entscheidend. Einer der großen Fehler nach der Finanzkrise war ja, dass wir in der Eurozone zu schnell auf eine prozyklische Finanzpolitik umgeschwenkt sind. Ausgaben wurden in der Krise gekürzt und das ist immer fatal. Diesmal haben aber auch Länder, die bisher sehr konservativ waren, wenn es ums Geld auszugeben geht, großzügig reagiert. Ich bin also optimistisch, dass der Euroraum diese Lektion gelernt hat.

Standard: Der frühere EZB-Chef Mario Draghi sagt, dass die Staatsschulden als Folge der Krise viel höher sein werden. Das wäre eine der großen Veränderungen. Ist das so??

Panetta: Ja, ich würde zustimmen. Aber ich würde auch erwarten, dass die Zinsen längere Zeit niedrig bleiben werden. Ob ein Land seine Schulden tragen kann, hängt von drei Faktoren ab: der Höhe der Schulden im Vergleich zur Wirtschaftsleistung, der Wachstumsrate der Wirtschaft und dem Zinsniveau. Auf der einen Seite sind wir also in einer schlechteren Situation, weil die Staatsverschuldung höher sein wird. Zugleich aber gibt es eine Reihe von Faktoren, die die Zinsen in der Zukunft niedrig halten werden. Und diese haben gar nichts nur mit der der EZB zu tun.

Standard: Welche Faktoren?

Panetta: Da ist allen voran die demografische Entwicklung, die Alterung der Gesellschaften in vielen Industrieländern. Das bringt Überschuss an Spareinlagen mit sich und geringeres Potenzial für Innovation. Viele Ökonomen sprechen deshalb von einer säkularen Stagnation: Die Wirtschaft wächst weniger stark, damit sind auch die Inflation und die Zinsen niedriger, weil Kapital weniger nachgefragt wird.

Standard: Wie lange geht das gut?

Panetta: Der Pfad in Richtung säkularer Stagnation ist nicht unvermeidbar. Alles hängt davon ab, ob es uns gelingt, das Wachstum anzukurbeln. Wer stärker wächst, kann auch seine Schulden leichter finanzieren. Wenn ein Haushalt gut verdient, tut er sich auch leicht, die Kreditraten zu stemmen.

Standard: Der Eurozone gehören 19 Länder an. Was, wenn das Wachstum im Norden zurückkehrt, dort die Inflation steigt, aber nicht im Süden? Die EZB muss Politik für alle machen. Das wäre ein Dilemma.

Panetta: Eine der größten Herausforderungen ist zu vermeiden, dass der Euro-Raum nach der Krise noch größere Unterschiede und regionale Fragmentierung aufweist als vor der Krise. Dieses Risiko ist real und ein Grund dafür, dass wir eine symmetrische und energische Antwort auf diese Krise brauchen. Nicht aus Solidarität irgendwem gegenüber, das ist eine moralische Kategorie. Sondern wegen unserer engen wirtschaftlichen Verflechtungen. Wenn ein Teil des Eurogebiets in eine tiefe und langanhaltende Rezession fällt, denken Sie wirklich, der Rest der Eurozone könnte sich so weiterentwickeln, als wäre nichts gewesen? Nein. Daher ist es im Interesse aller Länder, die Erholung überall zu sichern und dafür auch gemeinsam Ressourcen bereitzustellen.

Standard: Wie schafft man das, also sich gemeinsam zu entwickeln?

Panetta: Aktuell geht es ja darum, die Wirtschaft zu stabilisieren. Danach kommt eine Phase, in der Investitionen notwendig werden. Ökologie sollte dabei ein Schwerpunkt sein. Einige Länder werden, auch das hat sich gezeigt, in Gesundheitsinfrastruktur investieren müssen. Dann bleibt immer das Thema Innovation und Humankapital – also Bildung. Hier gibt es sinnvolle Strategien, Wachstum mit staatlichen Investitionen in diese Sektoren anzukurbeln.

Standard: Müssen eigentlich die zusätzlichen Staatsschulden je abgezahlt werden?

Panetta: Je niedriger die Kosten für den Schuldendienst, umso leichter sind sie zu tragen. Viele bekannte Ökonomen glauben, dass die entwickelten Volkswirtschaften angesichts strukturell niedriger Zinssätze höhere Schulden tolerieren können, ohne eine voreilige Haushaltskonsolidierung. . Was zählt ist, ob die Schulden produktive Ausgaben finanzieren, die zu höherem Wachstum in der Zukunft führen.

Standard: Japan hat über 200 Prozent Schulden. Das Land wächst kaum, scheint aber mit diesem Schuldenberg auch kein Problem zu haben.

Panetta: Wenn ein Land Schulden braucht, um Wachstum anzukurbeln, um Innovation zu schaffen, ist es absolut rational, höhere Schulden für produktive Ausgaben zu machen. Aber nicht für immer. An irgendeinem Punkt müssen sich diese Investitionen auszahlen, damit die Schulden durch das ausgelöste höhere Wachstum zurückgezahlt werden können. Ansonsten bekommt der Staat ein Problem.

Standard: Kann aus der aktuellen Situation auch eine Bankenkrise folgen? Die Hotellerie ist massiv getroffen von der Krise – und sehr abhängig von Bankkrediten. Wenn Kreditnehmer massenhaft umfallen, wird es problematisch.

Panetta: Die Banken sind heute widerstandsfähiger als vor zehn Jahren, aber wir können Risiken nicht ausschließen. Wenn es eine längere Rezession gibt, wird das auch den Finanzsektor treffen. Aber im Unterschied zur Finanzkrise ist den Regierungen diesmal weit mehr bewusst, in welche Schwierigkeiten der Finanzsektor kommen kann. Die Länder bieten staatliche Kredithaftungen für Schuldner an. Das soll die Kreditnehmer schützen -sichert aber auch die Banken mit ab. Die Europäische Bankenaufsicht hat diesmal zudem einige Regeln gelockert, damit Banken Unternehmen leichter Kredite geben können und damit unerwünschte prozyklische Kreditvergaberichtlinien vermieden werden. Ein Kreditstopp an den privaten Sektor, würde die Turbulenzen noch verschärfen.

Standard: Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vergangene Woche das Anleihekaufprogramm der EZB ins Visier genommen. Unter anderem wurde kritisiert, dass die EZB nie erklärt hat, dass ihre Aktionen verhältnismäßig waren.

Panetta: Die EZB fällt nicht unter die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts sondern unter die des Europäischen Gerichtshofes. Dieser hat im Dezember 2018 geurteilt, dass die EZB im Rahmen ihres Preisstabilitätsmandates handelt und das Proportionalitätsprinzip beachtet. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts richtet sich an die deutsche Bundesregierung und den Deutschen Bundestag. Und die Bundesbank steht in engem Kontakt mit beiden.

Standard: Hat das Gericht die Strategie der EZB verstanden? Das Argument war, die EZB müsse auch andere Effekte ihrer Politik berücksichtigen, Hauspreise, Effekte auf die Sparer.

Panetta: Die EZB hat in der Vergangenheit diese Dinge immer wieder diskutiert, auch in der Öffentlichkeit, einschließlich im Rahmen ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Europäischen Parlament. Wir haben also ausgiebig über potenzielle Nebenwirkungen unserer Staatsanleihekaufprogramme gesprochen. Es gab EZB-Veröffentlichungen dazu und regelmäßigen Austausch mit Parlamentariern. Die Verhältnismäßigkeit wurde ausführlich diskutiert und zwar auch mit dem Europäischen Gerichtshof im Zuge seiner Entscheidung über unser Programm.

Standard: Das Gericht meinte unter anderem, deutsche Sparer seien potenzielle Verlierer der Geldpolitik gewesen. Ist das so?

Panetta: Nein, meiner Meinung nach war die EZB-Politik von Vorteil für die deutschen wie für die österreichischen Bürger, die zugleich Sparer und Arbeitnehmer sind und möglicherwiese auch Immobiliendarlehen haben. Viele Arbeitsplätze, die in den vergangenen Jahren in der Eurozone geschaffen wurden, sind in diesen Ländern entstanden. Diese Staaten sind nach der Finanzkrise besonders kräftig gewachsen. Dadurch ist auch das Einkommen, das gespart werden kann, gestiegen. Dazu hat die Europäische Zentralbank einen wichtigen Beitrag geleistet. Was die Zinseinnahmen angeht: Sie hängen am Ende vom Wachstum ab – nur wenn die Wirtschaft wächst, können die Zinsen steigen – und unsere Politik untermauert dieses Wachstum.

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